Leseprobe:
September 1989
Heute sollte es sein, sein erster Tag bei der NVA, der Nationalen Volksarmee der DDR. Alex saß auf seinem Bett, starrte auf den kleinen Koffer, den er kurz zuvor mit ein paar Sachen, die ihm wichtig erschienen, gepackt hatte. Es war ein lähmender Gedanke an eine Pflicht, die er nur deswegen als Pflicht ansah, weil es keinen Ausweg gab. Pflichterfüllung hieß es im SED-Jargon, und nicht nur dort. Jede Armee eines jeden Landes sah es so, hatte es immer so gesehen, würde es auch in Zukunft immer so sehen. Pflichterfüllung? Nein, für ihn war das, was ihn erwartet, weder Pflicht noch Erfüllung.
Sein Blick schweifte ziellos umher, blieb an einem Bild hängen, einer Schwarzweißfotografie, die in Silber eingerahmt auf der Kommode stand. Abgebildet waren seine Großeltern, aufgenommen im zweiten Weltkrieg, irgendwo in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze. Sie hatten gekämpft, gegen den Feind in den eigenen Reihen, gegen Hitler und seine Schergen. Stolz posierten sie vor einem ausgebrannten Militärfahrzeug. Viele ihrer Mitstreiter hatten ihr Leben verloren. Und trotzdem hatten sie den Kampf gewonnen, nach dem Krieg ihre Ideale verwirklicht. Das hatte ihm sein Vater immer wieder stolz verkündet, als wäre er damals selbst dabei gewesen. Wie gerne hätte er jetzt mit ihnen geredet, sich an ihren Idealen, ihren Ängsten, ihrem unerbittlichen Widerstandswillen genährt. Er konnte sich nicht mehr an sie erinnern. Sie starben kurz nach seiner Geburt. Dass die eine, die Hitler-Diktatur, in die andere, die SED-Diktatur, münden würde, konnte nicht in ihrem Sinne gewesen sein. Vielleicht waren sie verbittert gestorben, so verbittert, wie er sich selbst an diesem Morgen fühlte.
Der Grund seiner Verbitterung war jedoch ein anderer. Er, Alexander Kuschinsky, kaum jünger als seine Großeltern auf dem Bild, hatte das erdrückende Gefühl, nichts in seinem bisherigen Leben geleistet zu haben, nichts, auf das er hätte stolz sein können. Dabei gäbe es so einiges, auf das er hätte stolz sein können, wenn er es denn getan hätte: Widerstand gegen die eigenen Reihen, so wie einst seine Großeltern. Widerstand gegen die Diktatur einer Partei, deren Jugendorganisation sich zynisch FDJ, Freie Deutsche Jugend, nannte und gleichzeitig jede Meinungs- und Reisefreiheit im Keim erstickte. Maria, Ulrike und andere seiner Jahrgangsstufe sind aufgestanden, haben sich gewehrt, konnten stolz auf sich sein, auch wenn sie ihren Mut nun mit Jugendwerkhof und Knast bezahlen mussten.
Stattdessen hatte er sich weggeduckt, auch weil es ihm besser ging als vielen anderen. Genau deshalb hasste er sich. Und er hasste den, dem er diese Privilegien zu verdanken hatte, seinen Vater, August Kuschinsky, der als hochrangiger SED-Funktionär wie kein anderer die Staatsmacht, die Unterdrückung der Freiheit verkörperte. Er hasste seinen Vater, weil er ihn nun ungefragt zur NVA schickte und damit seinen kümmerlichen Rest an Widerstandswillen im Keim erstickte.
Und dennoch, hatte er ein Recht, seinen Vater zu hassen? Hatte dieser nicht alles für ihn getan? Vor knapp zehn Jahren war seine zweite Frau, Alex‘ Mutter, gestorben. Alex war damals gerade zwölf Jahre alt. Es waren nur noch vage Erinnerungen, die er mit ihr verband. Sie hatte ihm Geschichten vorgelesen, ihm vorgesungen, ihn getröstet, wenn nächtliche Träume ihn gequält hatten. Sie hatte ihn geliebt. Er versuchte sich an ihre Stimme, an ihr Gesicht zu erinnern. Geblieben waren nur noch blasse Schemen ihres sanften Lächelns, ihr süßlicher Geruch, die zarte Berührung ihrer ausgemergelten Hände kurz bevor sie an einer unheilbaren Krebserkrankung verstarb.
Er fühlte sich schuldig, nicht an ihrem Tod, vielmehr daran, sie in seiner Erinnerung nahezu ausgelöscht zu haben. Noch nicht einmal ein Bild von ihr hatte er neben dem seiner Großeltern auf der Kommode stehen.
Von einer quälenden Schwermut, einem schlechten Gewissen gepackt, erhob er sich schließlich von seinem Bett, zog das Fotoalbum aus dem Bücherregal. Urlaub am Balaton stand auf der Vorderseite. Er musste nicht lange blättern, bis er sie fand. Sanft strich er mit den Fingerspitzen über das Bild, auf dem sie beide, er und seine Mutter, in die Kamera lächelten, Hand in Hand, am Plattensee, ihrem letzten gemeinsamen Urlaub. Warum nur wurde ihm erst nach so vielen Jahren bewusst, wie sehr er sie vermisst hatte? Es war sein Vater, der sie aus seinem Leben verdrängt, der ihren Platz eingenommen hatte. Vielleicht hatte er es gut gemeint, wollte keine Trauer zulassen, nur das Beste für seinen einzigen Sohn, Vater und Mutterersatz in einer Person sein? Im Grunde gab es seither für ihn nur seinen Vater, der bestimmte, was sein Sohn tun oder denken durfte.
Er schlug das Album zu, schaute zum Fenster. Es war Mittwoch der 20. September 1989 und es sollte ein schöner Spätsommertag werden, viel zu schön für das, was an diesem Nachmittag auf ihn wartete. Einige Blätter in den Bäumen wurden bereits gelb, kündigten den Herbst an. Plötzlich musste er an Maria denken.
„Maria.“ Er musste ihren Namen laut aussprechen. Er musste es hören, jeder sollte es hören. „Maria.“ Wenn er doch nur mit ihr reden könnte, jetzt und hier. Nein, es war nicht nur sein Vater, der in den letzten Jahren sein Leben bestimmt hatte. Sie war es, die in ihm eine Stimme erweckt hatte, die er bis dahin nicht kannte: seine eigene Stimme. Sie brachte ihm bei, dass er nicht das Abbild, nicht das geistige Eigentum seines Vaters war. Sie erzählte ihm von Freiheit, von wirklicher Freiheit, nicht die einer verlogenen FDJ. Und deshalb missachtet sein Vater Maria vom ersten Tag an. Sie stand für ihn nicht nur auf der falschen Seite, sondern schlimmer noch, zwischen ihm und seinem Sohn. Und er, Alex, hatte es nicht wahrhaben wollen. Liebe und Politik waren zwei unterschiedliche Dinge, hatte er immer wieder versucht, seinen Vater und im Grunde auch sich selbst zu überzeugen. Er hatte jedoch schon geahnt, dass er sich irgendwann entscheiden musste, für Maria oder für seinen Vater. Mit der MZ, dem Motorrad seiner Jugendträume, kam der erste Bruch. Sein Vater hatte sie ihm geschenkt, allerdings mit der unverblümten Bedingung, sich entscheiden zu müssen: MZ oder Maria. Damals hatte er noch versucht, das perfide Angebot seines Vaters auszublenden, hatte sich eingebildet, das eine mit dem anderen zu verbinden zu können, heimlich, hinter dem Rücken seines Vaters. Maria war ihm jedoch zuvorgekommen, wollte von ihm und seiner MZ nichts mehr wissen.
Und dann sahen sie sich an der Ostsee wieder. Es hatte so gut angefangen, weit weg von Halle, weit weg von seinem Vater. Es war ein romantischer Abend, damals auf dem Steg. Was war nur in ihn gefahren? Er hatte sich nicht unter Kontrolle gehabt, war kopflos über sie hergefallen, als wäre sie sein Eigentum. Maria war konsequent, hatte ihm erneut den Laufpass gegeben. Es wäre das Ende ihrer Beziehung gewesen, wenn ihnen beiden das Schicksal nicht einen bitteren Streich gespielt hätte: Maria war schwanger. Behalten durfte sie das Kind nicht. Abtreibung, auch gegen ihren Willen, weil es besser für sie sei, hatte der Professor gesagt. Danach wollte sie weg, weit weg, Republikflucht. Sie wurde an der Grenze gefasst. Zwei Jahr Hoheneck hatten sie ihr aufgebrummt, zwei Jahre Hölle, ohne dass er, Alex Kuschinsky, Sohn eines SED-Funktionärs, auch nur das Geringste daran hätte ändern konnte.
Und jetzt? Selbst wenn er bis nach Hoheneck, bis zu ihr vordringen, sich für Hafterleichterung oder -verkürzung einsetzen könnte, Maria würde seine Hilfe nicht annehmen. Sie würde nie wieder etwas von ihm annehmen, am wenigsten den Versuch einer Entschuldigung. Verdenken konnte er ihr es nicht. Sein Vater hatte gewonnen, wieder einmal.
Nein, es war mehr als nur lähmende Verbitterung, es war die blanke Wut, die plötzlich in seiner Brust hochkochte. Wie oft würde sich sein Vater noch in sein Leben einmischen, es am Ende zerstören? Sein Entschluss stand fest. Er musste weg, weg von seinem Vater. Er überlegte nicht lange, öffnete die Metallschatulle, die im Regal stand und in der er sein Erspartes aufbewahrte. Er steckte sich das Geld in die Tasche und verließ sein Zimmer. Vielleicht war es ein Abschied für immer. Es fühlte sich gut an. Zum ersten Mal war er ein wenig stolz auf sich, auf seinen Willen zum Widerstand gegen die eigenen Reihen, so wie einst der seiner Großeltern.
Leise ging er die Stufen hinab, vorbei an Küche und Wohnzimmer. Die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters war nur angelehnt. Alex blieb stehen, versuchte kaum zu atmen. Sein Vater saß an seinem Schreibtisch, vertieft in Papiere, die vor ihm lagen. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Noch hatte er ihn nicht bemerkt. Alex überlegte einen Moment. Sollte er einfach gehen, ohne etwas zu sagen, sich einfach aus seinem alten Leben stehlen? Sein Vater blickte auf, kam ihm zuvor, wie so häufig.
„Alex, hast du deine Sachen gepackt?“ Er musterte ihn streng-fragend.
Alex trat näher, blieb dann jedoch in einiger Entfernung stehen. Neues Deutschland stand in großen Buchstaben auf der Titelseite der Zeitung, die auf dem Schreibtisch lag. Sein Vater wand sich wieder seiner Zeitung zu.
„Ja, Vater, es ist alles gepackt“, antwortete Alex leise.
„Kleider brauchst du ja keine.“ Sein Vater blickte erneut zu ihm auf, grinste, wirkte irgendwie stolz. „Viel brauchst du dort nicht. Die werden dich sowieso gleich in Uniform stecken.“
„Ich weiß.“ Alex lächelte gezwungen zurück.
„Na also, mein Junge, so ist es recht. Du scheinst dich ja zu freuen, auf dein neues Leben.“
„Oh ja, es …, es wird ein neues Leben“, entgegnete Alex trocken, wollte noch etwas sagen.
„Du hast noch knapp zwei Stunden“, kam ihm sein Vater erneut zuvor, blickte dabei ungeduldig auf seine Uhr. „Bis dahin kannst du dir ja noch die Zeit vertreiben. Das wird kein Zuckerschlecken bei der NVA. Aber, es muss so sein.“
„Ich drehe noch eine Runde mit meinem Moped. Und … was ich noch sagen wollte …“ Alex schaute seinen Vater fragend an.
„Mach das, Junge.“ Sein Vater wandte sich erneut seiner Zeitung zu, blätterte die erst Seite um. „Diese verdammten Unruhen überall“, murmelte er erst in sich hinein, um dann lauter zu sagen, was er eigentlich sagen wollte. „Friedensmärsche, so ein Quatsch. Wird Zeit, dass man diesen Hallodris die Flausen austreibt.“ Dann blickte er nochmals auf. Vielleicht hatte er ein zustimmendes Nicken seines Sohnes erwartet. Plötzlich wirkte er ungehalten. „Und, Alex, ist noch etwas? Du siehst doch, ich habe hier noch einiges zu tun.“
„Ja, das sehe ich“, antwortete Alex, überlegte, ob er überhaupt noch etwas sagen sollte.
„Also dann, du kannst gehen“, kam ihm sein Vater erneut zuvor, schüttelte den Kopf, wandte sich wieder seiner Zeitung zu.
„Ja, Vater, es ist Zeit zu gehen“, entgegnete Alex. Ohne noch etwas zu sagen, weil alles gesagt war, drehte er sich um und verließ das Haus durch die Hintertür. Er atmete tief durch, blickte hinauf in den Apfelbaum, an dem noch ein paar rot-gelbe Äpfel hingen. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel herab. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag, dafür, dass der Sommer im Grunde vorbei war. Der Herbst ließ jedoch auf sich warten. Und sein neues Leben? Das hatte bereits begonnen.
Im Hof setzte er seinen Helm auf, schob die MZ durch das Gartentor hinaus auf die Straße. Ein Tritt genügte. Die MZ sprang sofort an, knatterte verlässlich vor sich hin. Ja, es klang, als habe sie es lange nicht erwarten können, endlich auf große Fahrt zu gehen.
„Es ist Zeit zu gehen“, wiederholte Alex die letzten Worte an seinen Vater. Dann setzte er sich auf den Sattel seiner MZ und fuhr los, einfach so. Er fühlt sich frei, so frei, wie nie zuvor in seinem Leben.