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September 1991
Maria
Maria rannte los. Sie fühlte sich frei und gleichzeitig getrieben von dem Gedanken, alles zu verlieren. Am Fuß der langgestreckten Düne, die das Festland von der Ostsee trennte, dort, wo der befahrbare Feldweg in weichen Sand überging, stand ihr Taxi. Der Fahrer hatte sein Versprechen gehalten, sie noch vor Sonnenuntergang dort abzuholen, wo er sie vor knapp zwei Stunden rausgelassen hatte. Sie spürte einen heftigen Schmerz in der Seite, rannte jedoch weiter, wollte den freundlichen Taxifahrer nicht warten lassen. Als sie näherkam, schien er es jedoch nicht sonderlich eilig zu haben. Er lehnte am vorderen Kotflügel seines cremefarbenen Mercedes und rauchte eine Zigarette.
„Da sind Sie ja“, sagte er, legte seinen Kopf in den Nacken, blies Zigarettenqualm in den Himmel.
„Warten Sie schon lange?“, fragte Maria, als sie außer Atem ankam.
„Warten gehört zu meinem Geschäft“, sagte er mit einem gelassenen Gesichtsausdruck.
„Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen.“
„Da ist noch jemand?“, fragte er, nickte hinüber zur Düne. „Wollen wir auf sie oder ihn warten?“
„Ist nicht nötig. Sie ist mit dem Fahrrad hier.“
„Mit dem Fahrrad? Dann sollte sie sich beeilen. Es ist gleich dunkel.“ Er warf seine halb gerauchte Zigarette in den Sand, drückte das letzte Glimmen mit dem Schuh aus und setzte sich hinter sein Lenkrad. Die Fahrertür quietschte leise, bevor sie ins Schloss fiel.
Maria blieb vor dem Wagen stehen und blickte zurück. Oben auf der Düne stand Ulrike, ein einsamer Schatten vor dem roten Himmel der untergehenden Sonne. Maria winkte ihr zu, vielleicht ein letztes Mal, dachte sie schwermütig. Dann stieg sie hinten ein und zog die Wagentür zu. „Zum Hafen“, sagte sie kurz.
Der Taxifahrer warf ihr einen zweifelnden Blick über die Schulter zu. „Zum Hafen? Es ist fast dunkel. Sind Sie sicher?“
„Ganz sicher“, sagte Maria entschlossen.
„Um diese Zeit sollten sich junge Frauen wie Sie von dort lieber fernhalten.“
„Diesmal müssen Sie nicht auf mich warten“, erwiderte sie den gutgemeinten Rat.
Er sagte nichts weiter, zuckte nur mit den Schultern. Dann ließ er den Motor an und setzte zurück auf die asphaltierte Zufahrt zum Strand. Als er auf die Landstraße einbog, blickte sich Maria nochmals um. Ulrike war bereits verschwunden.
Es wurde rasch dunkel. In der Ferne kamen die gleißenden Lichter des Hafens immer näher. Vielleicht hatte der Taxifahrer recht und sie sollte sich dort wirklich nicht herumtreiben, nicht um diese Uhrzeit. Es führte jedoch kein Weg zurück. Sie wollte auf einem der Containerschiffe anheuern. Auf der Hinfahrt hatte sie etwas auf einem Schild gelesen, das sie nicht losließ, nicht bis zum nächsten Tag warten konnte.
Personal gesucht. Keine Einarbeitung erforderlich.
Sie hoffte, dass es sich nicht um eine Tätigkeit im Hafen, sondern um einen Job auf einem der großen Überseeschiffe handelte. Damit könnte sie endlich ihren Kindheitstraum, damals in Halle an der Saale, wahr werden lassen. Beflügelt von Oma Heddes Geschichten und gleichzeitig eingesperrt hinter einer mörderischen deutsch-deutschen Grenze, dem antiimperialistischen Schutzwall, wie es die SED-Funktionäre der DDR zynisch nannten, war ihre Sehnsucht nach der großen Freiheit nie erloschen, auch nicht nach dem Fall der Mauer, der Wende, wie es vielversprechend hieß.
Gleichzeitig wirbelten ihr noch ganz andere Dinge durch den Kopf. Das Wiedersehen mit Ulrike war zu kurz, eine knappe Stunde, vielleicht auch weniger. Wenigstes hatte die Zeit gereicht, um alle Missverständnisse, die sich in den letzten Wochen zwischen ihnen angesammelt hatten, aus dem Weg zu räumen. Ulrike war ihre beste Freundin und würde es immer bleiben. Dabei waren es schwere Zeiten, die hinter ihnen lagen. Wie oft hatte sie um Ulrikes Leben gezittert, damals, als man sie im Jugendwerkhof drangsaliert und später wegen staatsfeindlicher Delikte im Frauenzuchthaus Hoheneck eingesperrt hatte.
Hoheneck war auch ihr selbst nicht erspart geblieben, als sie wegen einer missglückten Republikflucht zugeführt wurde, wie es im DDR-Jargon hieß. Die Inhaftierung hatte aber auch etwas Tröstliches, als sie und Ulrike sich auf der Krankenstation kurz wiedersahen. Gleichzeitig war es einer der schrecklichsten Momente in ihrem Leben. Ulrike war an einer schweren Lungenentzündung erkrankt, ein Zustand, den Inhaftierte in Hoheneck nur selten überlebten. Es kam einem Wunder gleich, dass sie sich kurz nach der Wende wiedersahen. Alles hätte so bleiben können, wie früher, als sie oben auf der Platte ihren Träumen nachhingen. Doch ihre Wege trennten sich erneut. Ulrike wollte nach dem Fall der Mauer in ihrer Heimat bleiben, sich eine neue Existenz aufbauen. Sie selbst wollte weg, suchte nach der ersehnten Freiheit, sah ihr Leben an der Seite ihres Jugendfreundes Alex.
Beide waren sie gescheitert. Ulrikes Gärtnerei wurde von raffgierigen Immobilienhaien, die nach der Wende die DDR überschwemmten, sprichwörtlich dem Erdboden gleichgemacht.
Ihre eigenen Lebensinhalte zerbrachen, als Alex tödlich verunglückte. Vielleicht war es auch ein Fehler gewesen, sich erneut an ihn zu klammern. Es war der Hass auf seinen Vater, der ihn am Ende zerstörte.
Und zu allem Überfluss wäre es aufgrund einer Reihe von verhängnisvollen Missverständnissen fast zum Bruch zwischen ihr und Ulrike gekommen. Wie es schien, war Ulrike hier an diesem Strand kurz davor gewesen, sich das Leben zu nehmen. Aber das Schicksal hatte sie in letzter Minute wieder zusammengeführt.
Der Taxifahrer hielt an, drehte sich zu ihr um. „Und Sie sind sicher, hier aussteigen zu wollen?“
Maria sah kurz aus dem Fenster. Sie hatten den Hafen erreicht. Er war in helles Licht getaucht. „Es wartet jemand auf mich. Ich bin schon spät dran“, sagte sie kurz angebunden, um den besorgten Taxifahrer zu beruhigen. Dass er ihre Notlüge nicht glaubte, war seinem Gesicht leicht anzusehen. Ohne weitere Worte zu verlieren, bezahlte sie und stieg aus.
Der Fahrer setzte zurück und kurbelte die Scheibe hinunter. „Heute Nachmittag sollte ich Sie am Strand rauslassen und heute Abend am Hafen. Soll ich Sie nicht doch lieber in die Stadt mitnehmen? Mach ich kostenlos.“ Es schien, als machte er sich wirklich Sorgen um sie.
„Also gut, Sie wollen die Wahrheit wissen“, sagte Maria, schielte bereits hinüber zu den Containerschiffen. „Heute Mittag suchte ich nach meiner besten Freundin. Ich hatte Sorge, dass sie sich etwas antun will. Wir haben uns gefunden, konnten Missverständnisse aus der Welt schaffen. Jetzt ist alles gut.“
Der Taxifahrer hob eine Augenbraue. „Alles gut? Sind Sie sich da sicher? Was suchen Sie dann hier, ausgerechnet am Containerhafen?“
Maria seufzte tief und lächelte. „Freiheit. Ich suche die Freiheit, die mir so viele Jahre verwehrt wurde.“
„Und Sie meinen, ausgerechnet hier Ihre Freiheit zu finden?“, versuchte der Taxifahrer sie noch umzustimmen.
Maria sah kurz zum Hafen, dann wieder zum Taxifahrer. „Vielleicht. Früher habe ich den Schiffen sehnsüchtig hinterhergeschaut. Heute hält mich nichts mehr auf, keine Mauer, kein Stacheldraht.“
Der Taxifahrer schüttelte zweifelnd den Kopf. „Da wäre ich mir nicht so sicher. Fällt die eine Mauer, baut sich eine neue auf. Passen Sie auf sich auf.“ Er hielt ihr eine Visitenkarte entgegen. „Falls Sie es sich doch anders überlegen. Sie können mich jederzeit anrufen.“
Maria nahm die Karte entgegen. „Das ist sehr nett von Ihnen. Wissen Sie was? Sobald ich dort bin, wo ich schon immer hinwollte, schreibe ich Ihnen eine Postkarte.“
„Na dann …“ Er wandte sich dem Lenkrad zu, startete den Wagen und wollte den Gang einlegen. Ein letztes Mal blickte er zu Maria auf. „Es ist für einen Taxifahrer nicht üblich, aber … darf ich Ihren Namen erfahren?“
„Maria, Maria Münkwitz. Ich bin aber nicht aus der Gegend.“
„Na dann, viel Glück in der Freiheit …, Maria.“ Er lächelte, dann fuhr er los.
Maria sah ihm kurz nach, dann wandte sie sich zum Hafen um. Ein kühler Wind wehte ihr vom Hafenbecken entgegen. Es roch nach Seetang und Schiffsdiesel. Das metallische Klirren der Kräne und das Dröhnen der Lastwagen, die auf ihre Verladung warteten, vibrierten in ihren Ohren. Nicht weit entfernt quietschten die Bremsen einer Rangierlock, die eine schier endlose Kette von Waggons hinter sich herzog. Das ganze Hafengelände war von einem hohen, unüberwindbaren Zaun umgeben. Wachpersonal patrouillierte mit Schäferhunden an kurzer Leine. Erinnerungen an die deutsch-deutsche Grenze, an ihre damalige Flucht kamen in ihr hoch. Der Taxifahrer hatte recht, alte Grenzen fallen, neue tun sich auf. Damals war sie an der Grenze gescheitert, kam nach Hoheneck. Diesmal könnte sie niemand aufhalten.
Sie versuchte ihre schweren Gedanken zu vertreiben, blickte sich suchend um. Wo war das Schild, das sie auf der Hinfahrt gesehen hatte? Nervös schlich sie am Zaun entlang, suchte ein Schlupfloch, um auf das Hafengelände zu gelangen. Nur ein kurzes Stück weiter kam ein Häuschen in Sicht, daneben eine Schranke. Als sie näher kam, erkannte sie es wieder, das Schild mit den verheißungsvollen Worten: Personal gesucht. Keine Einarbeitung erforderlich. Sie blieb vor dem Schild stehen. In kleineren Buchstaben darunter war zu lesen, dass sowohl die Hafenbehörde als auch die Reedereien Hilfspersonal suchten. Für einen Moment machte sie die Augen zu, versuchte sich vorzustellen, wie sie damals in der Ferienzeit mit ihren Eltern und später im Zeltlager sehnsüchtig den Containerschiffen hinterhergeschaut hatte. Jetzt war es so weit. Endlich, dachte sie erleichtert, endlich könnte sie die Vergangenheit hinter sich lassen.
„Sie wünschen?“ Ein Mann mit einer Schirmmütze schaute sie aus dem Häuschen heraus an.
„Ich bin hier wegen der Stelle.“
„Wegen der Stelle? Wegen welcher Stelle?“ Der Mann zog die Augenbrauen hoch.
Maria deutete auf das Schild, das am Gitter hing.
Er schmunzelte. „Das hängt schon lange dort. Das Geschäft läuft nicht mehr so gut. Seit der Wende sind viele entlassen worden. Jetzt ist jeder im Hafen froh, wenn er seinen Job behalten kann. Es gibt keine Stellen mehr.“
Maria wollte sich nicht abwimmeln lassen. „Eigentlich bin ich nicht hier, um im Hafen zu arbeiten. Ich will auf eines der Überseeschiffe.“
„Sie wollen anheuern? Eine junge Frau wie Sie will auf so einen Kahn?“ Er lachte kopfschüttelnd. „Na, das habe ich ja noch nie erlebt. Die Reedereien bringen alle ihre eigenen Leute mit. Viele Asiaten, die werden scheinbar nicht seekrank, was weiß ich. Und Frauen nehmen die schon mal gar keine.“
„Ja, aber …“
„Ich gebe Ihnen einen guten Rat, junge Frau. Machen Sie etwas Anständiges. Friseuse oder so was.“
„Vielleicht brauchen die eine Friseuse an Bord?“ Maria wusste sofort, dass es eine dämliche Frage war.
Der Mann lehnte sich zurück, fing erneut an zu lachen. „Das ist ein guter Witz. Die Kerle da oben arbeiten im Schichtdienst, Tag und Nacht. Es ist denen ziemlich egal, wie sie aussehen. Hauptsache, die Kohle stimmt. Und nochmal, Frauen haben da nichts zu suchen.“
In seinem Wärterhäuschen klingelte das Telefon. Der Mann drehte sich um, griff zum Hörer. „Herrgott, wo bleibst du denn? Meine Schicht ist längst zu Ende und du …“, brüllte er los.
Mehr verstand Maria nicht, duckte sich unter der Schranke hindurch, lief auf das Hafenbecken zu und suchte nach Deckung. Das ganze Gelände war hell beleuchtet. Im Schatten eines Containers drückte sie sich an das kalte Metall. Sie wagte kaum zu atmen, hielt die Augen geschlossen. Ihr Herzschlag und ihre Gedanken schienen um die Wette zu rasen. Gleich gehen die Alarmsirenen an, dachte sie ängstlich. Nichts passierte. Mit dröhnendem Krach brauste ein LKW an ihr vorbei. Zögerlich drehte sie sich zum Wärterhäuschen um. Den Mann mit der Schirmmütze konnte sie gerade noch erkennen. Er fuchtelte mit beiden Armen in alle Richtungen, schien gegenüber einem anderen, der seinen Mantel aufhing, in hellster Aufregung. Als die Männer vor die Tür traten und mit Ferngläsern das Gelände absuchten, drückte sich Maria weiter hinein in den schmalen Spalt zwischen die zur Verladung bereitstehenden Container. Jemand mit Hund patrouillierte nicht weit von ihr. Immer weiter schob sie sich hinein in das Labyrinth zwischen den Metallkästen. Dann blieb sie stehen. Herzklopfend schaute sie sich um. Vor ihr erhob sich die Bordwand eines gewaltigen Containerschiffes. Das kalte Licht unzähliger Neonröhren erleuchtete die Decks weit über ihr. Erneut dachte sie an Oma Hedde. Mit einem Schiff sei sie damals in die Welt hinausgefahren. So hatte es die Oma erzählt. Aber es war alles erfunden. Und doch hatte es so real geklungen, so wirklich, wie genau in diesem Moment. Flieg, Maria, flieg, frei wie ein Vogel, schienen ihr die Erinnerungen an Oma Hedde zuzurufen.
Sie schob sich weiter vor bis zur Kante der Kaimauer. Gewaltige Reifen verhinderten, dass das Schiff dem Beton zu nahekam. Armdicke Taue hielten es in Position. Für einen Moment dachte sie daran, an einem der Taue hinauf bis zum Deck zu klettern, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Sicher waren die mächtigen Taue zu glatt, als dass sie sich daran emporziehen könnte. Der Gedanke, in den Spalt zwischen Schiff und Kaimauer zu fallen, dort zu ertrinken oder wie eine Fliege zerquetscht zu werden, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.
Nicht weit von ihr bellte ein Hund. Sie dachte an den Mann im Häuschen und an den Taxifahrer. Sie hatten recht. Es war dumm von ihr zu glauben, dass hier ihr Traum von der Freiheit beginnen könnte. Entmutigt schob sie sich zurück zwischen die Container. Unschlüssig stand sie da. Ihr wurde kalt. Eine unendliche Schwere ließ sie langsam, eingekeilt zwischen die Container, zu Boden sinken. Erschöpft lehnte sie ihren Kopf zurück. Plötzlich gab die Wand hinter ihr etwas nach. Geistesgegenwärtig griff sie nach hinten, krallte ihre Finger in den sich auftuenden Spalt und stemmte sich mit den Füßen gegen die gegenüberliegende Wand. Der Container öffnete sich weiter, gerade so weit, dass sie hindurchschlüpfen könnte. Sie überlegte nicht lange, drehte sich um und quetschte sich in das Innere des Containers. Für einen Moment hielt sie den Atem an, schaute sich um. Quietschend verschloss sich der Spalt hinter ihr, aber nicht ganz, ließ noch etwas Licht in das Dunkel fallen. Es war gerade genug, um zu erkennen, dass sich Kisten bis unter die Decke stapelten. Viel Platz hatte sie nicht. Sie überlegte und kauerte im Dunklen auf dem Boden. Zumindest war sie hier erst einmal sicher. Sie wollte abwarten, bis es draußen still wurde, die Stimmen der Wärter und das Bellen der Hunde verschwunden waren, um sich dann wieder ins Freie zu zwängen.
Nach einer Weile verriet das leise Klopfen von Tropfen über ihr, dass es draußen angefangen hatte zu regnen. Erschöpft streckte sie sich auf den Kartons aus, wartete auf einen günstigen Moment, sich aus ihrer Höhle zu befreien. Immerhin saß sie im Trockenen. Eine lähmende Müdigkeit überkam sie. Unter dem monotonen Prasseln des Regens schienen sich Zeit und Raum aufzulösen.
Plötzlich schreckte sie auf. Es musste kurz nach Mitternacht gewesen sein, als sich ihre stählerne Behausung mit lautem Getöse, dem Klirren und Quietschen von Ketten, in Bewegung setzte.