Leseprobe „Und am Ende die Wende“

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Die Landschaft glitt an ihr vorbei. In einiger Entfernung sah sie die Schornsteine von Leuna. Sie fuhren Richtung Westen. Eigentlich hätte sie jubeln müssen, würde doch, sofern die Reise so weiterging, ihre Flucht am Ende doch noch in Erfüllung gehen. Sie wäre frei, den Mauern von Hoheneck, der verhassten Republik entkommen. Die Welt ihrer früheren Träume würde weit offenstehen. Jetzt, da sie ihrem Ziel so nah war, taten sich neue, unüberwindbare Mauern auf: Gleichgültigkeit, Resignation, niemals endende Trauer. Sie fühlte sich gefangen in sich selbst.
Ein Mann setzte sich neben sie. Er war auffallend gekleidet: dunkler Anzug, bunte Krawatte, goldumrandete Brille. Er passte nicht in das übliche graue Stasischema. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und holte ein kleines weißes Heft hervor. Es wirkte unscheinbar und doch hatte es gleich etwas Offizielles. „Bundesrepublik Deutschland“ stand darauf, darunter der Vermerk: Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge. In der Mitte prangte ein großes C, gefolgt von einer handschriftlich eingetragenen Nummer. „Für Sie, Ihr neues Leben“, sagte er trocken. Es war sein Standardspruch in solchen Situationen. Es war nicht das erste Mal.
Verwirrt nahm Maria das Dokument an sich und schlug die erste Seite auf. Ihr Name, ihr Geburtsdatum, Geburtsort, das war alles, was ihr Leben noch ausmachte. Etwas sträubte sich jedoch in ihr, es anzunehmen. „Was soll das?“
„Sie wurden freigekauft“, erklärte der Mann knapp.
Die Worte klangen fremd. Sie fühlte sich nicht angesprochen, dachte an einen Viehmarkt. „Gekauft? Ich bin nicht zu kaufen“, entgegnete sie tonlos.
Der Mann lachte leise und trocken. „In diesem Fall doch. Es hat sich jemand für sie eingesetzt. Drüben.“
Sie dachte an Onkel Jup. Er musste zeitlebens nichts ertragen, saß nie in einer Zelle, wurde nie verhört. Der Gedanke, ihm gegenüber zu treten, seinen überheblich triumphierenden Blick über sich ergehen zu lassen, wieder Danke sagen zu müssen, war unerträglich. Geistesabwesend wollte sie das unscheinbare und doch so bedeutsame Dokument dem Mann zurückgeben.
Er winkte verständnislos und irritiert ab. „Jetzt nehmen Sie ihn schon. In einer halben Stunde sind wir an der Grenze.“ Er wollte aufstehen, seine nächsten Klienten informieren.
Maria griff nach seinem Arm und hielt ihn zurück. „Wer sind Sie?“, wollte sie wissen.
„Ein Mitarbeiter von Rechtsanwalt Vogel. Sagt Ihnen der Name nichts?“
Maria schüttelte den Kopf. Natürlich wusste sie, wer gemeint war. Sie wollte es aber nochmals aus erster Quelle hören.
„Sie gehören vielleicht zu den Letzten, die freigekauft wurden.“ Er drehte sich um, blickte nach hinten, erkannte, dass Maria die letzte seiner Klienten im Bus war.
„Wie viel?“, wollte Maria wissen.
Er blieb sitzen und überlegte kurz. „Wie viel? Oh, das werden inzwischen nicht weniger als 30 000 sein. Alle wurden politisch verfolgt, so wie Sie. Die meisten wegen Republikflucht. Insgesamt etwa 8000 Frauen in den letzten Jahren allein aus Hoheneck. Derzeit sitzen noch über 2000 Frauen und Männer in Bautzen. Dann gibt es weitere etwa 30 Haftanstalten, in denen …“
„Nein, ich meinte, wie viel bin ich wert?“, unterbrach sie ihn harsch.
„100 000 Westmark, letztes Jahr waren es noch 60 000 pro Kopf.“
„Kopfgeld, Menschenhandel.“ Fassungslos blickte sie dem Mann in die Augen. Es waren nicht nur die Zahlen, die Wut in ihr aufkommen ließen, sondern die nüchterne Art, wie er darüber sprach. Es klang wie ein Geschäft. Und er war noch nicht am Ende mit seiner kühlen Bilanz.
„Es geht hier nicht um Menschen. Es geht um Devisen. Drei bis vier Milliarden allein durch den Freikauf von Politischen. Trotzdem ist die DDR bankrott. Hören Sie keine Nachrichten?“
Nur noch ein Geschäft, wiederholte sie in Gedanken. Jedes der einzelnen Schicksale spielte keine Rolle, ging in der anonymen Masse unter. Aber es waren diese Einzelschicksale, versuchte sie sich einzureden, die am Ende ihre Geschichte erzählen, die das Unrecht beim Namen nennen würden.
Sie dachte an ihre Mutter, wie sie die politischen Ereignisse auf den Punkt gebracht hatte. Sie hoffte inständig, dass sie von ihrem Umweg über Hoheneck nichts erfahren hatte, dass sie sich keine Sorgen machte. Sobald sie drüben war, würde sie sich bei ihr melden.
Und dann waren da noch Ulrikes Eltern. Sie führten einen ausweglosen Kampf, einen Kampf gegen Windmühlen. Zum Glück waren sie frei. Wie lange noch? Sie waren voller Illusionen. Die Realität saß in diesem Bus, war auf der Flucht. Dabei war es noch nicht einmal eine Flucht, hatte vielmehr den Anschein des Legalen, des juristisch Legitimierten. Menschen gegen Devisen. Im RIAS hatte sie mal von einer Win-Win-Situation gehört. Das hier war eine Win-Win-Situation, sofern man die Erkenntnis, selbst nichts weiter als Handelsware zu sein, ignorieren konnte. Der Flüchtlingsausweis als Etikett, als Preisschild.
Sie gehörte vielleicht zu den Letzten, die freigekauft wurden, hatte der freundliche Mann neben ihr gesagt. Wie meinte er das? Irgendetwas würde passieren, sehr bald. Krieg, Niederschlagung, wie ihre Mutter es prophezeit hatte, oder doch etwas anderes? Wir sind das Volk, so war es aus dem Radio auf der Krankenstation gedrungen.
„Die Leute, sie gehen auf die Straße?“, wollte Maria zögerlich wissen. Offenbar überschlugen sich die Ereignisse seit ihrer Verhaftung. Ob sie dem Mann neben ihr trauen konnte, wusste sie nicht, zumindest nicht, solange sie noch auf DDR-Gebiet waren.
„Oh ja, es werden immer mehr.“ Er nickte und verzog das Gesicht, als könne er Marias naive Fragen nicht glauben. Er machte Anstalten aufzustehen, um sich wieder in die erste Reihe zu begeben.
Maria hielt ihn erneut fest. „Wird es Schüsse geben, Tote?“ Es hätte die Frage, die Befürchtung ihrer Mutter sein können.
Der Mann zuckte mit den Schultern und sah sie gleichmütig an. „Kann schon sein. Aber ich glaube eher nicht. Honecker hat abgedankt und dieser Krenz ist ein Schlappschwanz. Warum sollte er es riskieren, jetzt noch wegen mehr als der paar Toten an der Grenze belangt zu werden?“
Maria war verwirrt, schaute sich den Mann genauer an. Kein grauer Anzug, bunte Krawatte, kleine Brille, keines dieser DDR-Einheitsgestelle. Und wie er redete, offen, unzensiert, nein, er war keiner von der Stasi. Oder war es eine neue Masche, sie gesprächig zu machen? „Auf welcher Seite stehen Sie?“, fragte sie ihn direkt.
Er wirkte kurz verwirrt. „Was meinen Sie?“
„Ach nichts“, sagte sie schnell.
Sie schwiegen eine Weile. Der Mann blieb neben ihr sitzen. Vielleicht amüsierten ihn Marias naive Fragen. Nachdenklich schaute sie aus dem Fenster. Die Sonne quälte sich durch den Nebel. Wie lange hatte sie davon geträumt, in diese Richtung zu fahren, ohne an eine Grenze zu stoßen? „Wie wird es weitergehen? Was meinen Sie?“, fragte sie weiter.
Er atmete tief aus, hatte die Frage erwartet. Fast alle Flüchtlinge stellten diese Frage. „Ganz einfach, die DDR wird von der BRD geschluckt. Sang und klanglos. Die Russen haben schon ihre Zustimmung gegeben.“
„Und die Politischen, die Gefangenen?“
Er lächelte sie an, es wirkt überraschenderweise eher traurig. „Die werden amnestiert, freigelassen, sofern sie noch aufrecht der Hölle entkommen können.“
Maria zuckte zusammen. Ulrike hatte nicht mehr aufrecht der Hölle entkommen können. Der Mann konnte es nicht wissen. Sie konnte ihm daher keinen Vorwurf für die lapidare Äußerung machen. Dennoch brannte in ihr Wut, zunehmend auch auf ihn. Auch er verdiente am Freikauf unschuldiger Menschen, machte sich zum Handlanger dreckiger Menschengeschäfte. „Die sollten alle in den Knast, zu allererst diese SED-Verbrecher.“ Sie biss sich auf die Lippe, musterte ihren Nachbarn scharf.
Er nickte. „Keine Sorge. Es wird ein paar Verhandlungen und ein paar Verhaftungen geben. Trifft jedoch nicht alle. Auf Bewährung, heißt das im Westen.“ Er schmunzelte zweideutig. „Der Erich und seine Margot finden sicher irgendwo Asyl.“
„Und das Unrecht, das man uns angetan hat, wer steht dafür gerade?“
„Vielleicht gibt es eine kleine Rente, wenn‘s gut läuft.“
„Ich rede nicht von Geld. Ich meine Gerechtigkeit.“
„Frau Münkwitz“, er schaute Maria von der Seite her an, wirkte dabei abgeklärt, vielleicht auch resigniert, „wer sollte schon Interesse an Gerechtigkeit haben? Die Partei wird sich einen anderen Namen geben. Aus SED wird ABC oder XYZ, weiß der Kuckuck. Seien Sie sicher, dass die Wende, so nannte es der Egon selbst schon, nicht nur den Verfolgten gilt. Die aus den zweiten Reihen der SED haben doch längst ihre Beziehungen spielen lassen. Deren Karriere geht weiter, nahtlos. Und auf der anderen Seite, in der BRD, reiben sich clevere Geschäftsleute schon lange die Hände. Für die öffnet sich ein neuer Markt, Absatzchancen ohne Ende. Sie wissen doch selbst, wie es ist. Da gibt es Hunderttausende in der DDR, die in ihrem Leben noch nicht mal eine Banane gegessen haben. Die werden gekauft, ganz einfach. Billige Arbeitskräfte. Irgendwann werden sie aufwachen, wollen Gleichberechtigung mit denen im Westen. Aber das kann dauern. Zwanzig, vielleicht dreißig Jahre, und wer sollte dann noch Interesse an so ein paar ehemaligen armen Schweinen aus Bautzen und Hoheneck haben?“
Sie erwiderte gebannt seinen Blick. „Zumindest wir, die Verfolgten“, sagte sie langsam, schaute frustriert aus dem Fenster.
Der Mann mit der bunten Krawatte schüttelte mit einem fast belustigten Gesichtsausdruck den Kopf. „Glauben Sie das wirklich? Denken Sie, es gäbe Zeugen oder gar Verantwortliche? Die wollen doch nur noch ihren Kopf aus der Schlinge ziehen. Schuld hatte am Ende keiner. Der sozialistische Staat hat sie zu allem gezwungen. Sie hatten keine Wahl, als zu kuschen. Und die ehemaligen Häftlinge? Sie wurden jahrelang eingeschüchtert. Sie sind heilfroh, wenn sie alles vergessen können. Sie wollen nicht erinnert werden. Glauben Sie mir, Frau Münkwitz, das Resümee zur Wende wird sein, es war nicht alles schlecht im Osten, Ende der Veranstaltung. Das wird bei der nächsten Generation eher Gehör finden als jegliches Unrecht.“
Maria schüttelte den Kopf. Das war also das Ende der Veranstaltung. Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten und musterte den Anwalt entschlossen. „Nein, so einfach geht das nicht. Ich werde es ihnen sagen, allen. Und ich bin nicht allein.“ Mit einem Gefühl hilfloser Verbitterung blickte sie aus dem Fenster. In der Entfernung sah sie Wachtürme, eine Grenze, die sich im Licht der Mittagssonne wie eine Schlange durch die Landschaft wand. Verzweifelt musterte sie die Grenzanlagen, den Todesstreifen. „Das kann doch nicht alles einfach in Vergessenheit geraten. Ich werde keine Ruhe geben. Lange genug habe ich meine Klappe halten müssen, die Wahrheit verschwiegen.“ Tränen der Wut füllten ihre Augen, ließen die Grenzanlage verschwimmen. Verzweifelt wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen, wollte genau sehen, was die Menschen brutal in zwei Welten teilte.
Der Mann neben ihr ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Offenbar war es für ihn nicht das erste derartige Gespräch. Er fuhr mit einem kühl gelassenen Gesichtsausdruck fort: „Haben Sie Bilder, Aufzeichnungen? Sobald die Mauer fällt, wird alles vernichtet sein, verlassen Sie sich drauf. Es wird Ihnen keiner glauben. Viele Politische werden sich sogar schämen, im Knast gesessen zu haben. Die Jahre werden ins Land gehen. Was bleibt, sind ein paar harmlose Erinnerungsstücke, Betonbrocken von der Mauer, ein paar Bronzetafeln, die an das Grauen erinnern. Wesentlich mehr werden davon reden, wie gut sie es doch einst im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat hatten. FDJ-Freizeiten, Kindertagesstätten, Vollbeschäftigung und natürlich die Kameradschaften, der Zusammenhalt in schwierigen Zeiten. Niemand wird das Andenken an das sozialistische Mäntelchen beflecken wollen.“
Maria drehte sich erneut zum Fenster um. Tränen der Wut und Verzweiflung konnte sie nicht mehr aufhalten. Der Gedanke an ein kollektives Vergessen, schlimmer noch, an eine spätere, wie auch immer geartete ostromantische Verklärung der DDR war unerträglich. Am schlimmsten war aber die schmerzhafte Vorahnung, dass der Mann neben ihr vermutlich Recht behalten würde.