Leseprobe „Kopfstände“

Rom, Mai 2010

Al saß in der hintersten Ecke der Pizzeria Da Pasquale an einem Tisch für zwei Personen in unmittelbarer Nähe eines für die kleine Gaststätte überdimensionierten Kühlschranks. In regelmäßigen Abständen sprang der Kompressor an und gab ein sonores, nagelndes Geräusch von sich, das zusammen mit dem klirrenden Vibrieren der sich darin befindlichen Getränkedosen die monotone Hintergrundmusik italienischer Popkultur der 70er-Jahre nahezu übertönte. Grelles Neonlicht flackerte durch die mit Fettschlieren überzogene Glastür des Kühlschranks und ließ Al, sonst für seinen südländisch dunklen Teint bekannt, auffallend blass erscheinen. Im kühlen Licht schimmerten seine vollen, pechschwarzen, zu einem geraden Seitenscheitel gekämmten Haare bläulich, und man hätte ihn ohne Weiteres für einen jungen Italiener aus der Nachbarschaft halten können.
Nach einem Getränk gefragt, antwortete er nur mit „Cola“, um seine deutsche Herkunft nicht preiszugeben, was mit jedem weiteren Wort seiner geringen Italienischkenntnisse und seines deutschen Akzents sofort der Fall gewesen wäre. Er hatte zwar kein Problem damit, als Deutscher erkannt zu werden, obgleich er deutsche Touristen in einheimischen Restaurants oft als peinlich empfand. Aber er wollte inkognito bleiben, das hatte er Jule versprochen, auf die er schon seit etwa einer Stunde wartete. Al blickte besorgt auf seine Armbanduhr. Verabredet waren sie für halb fünf und jetzt war es bereits nach halb sechs. Er wusste, dass Jule gerne pünktlich war – was seine Nervosität noch verstärkte.
Unwillkürlich zuckte er zusammen, als der Kompressor des Kühlschranks erneut ansprang. Dann blickte er zur Tür und stellte besorgt fest, dass es zu regnen angefangen hatte. Er wusste, dass Jule mit einer geliehenen Vespa kommen wollte. Genau wie das letzte Mal, als sie sich anlässlich einer wissenschaftlichen Tagung in Rom trafen. Damals, als die Katastrophe ihren Anfang nahm.
Al war erleichtert, als er Jule erblickte, die erst zögerlich, dann aber zügig durch die Tür trat. Als sie ihn in der hinteren Ecke der Gaststätte entdeckte, lächelte sie mit diesem Ausdruck schüchterner Verlegenheit; dieses Lächeln, das Al nur bei ihr kannte und es so sympathisch fand. Es erinnerte ihn an den ungewöhnlichen Umstand, unter dem sie sich vor etwas mehr als neun Jahren zum ersten Mal begegnet waren. Jule war damals fünfzehn und damit knapp zwei Jahre jünger als er. Seitdem verband sie eine eher geschwisterliche Beziehung, was ihn jedoch nie davon abhielt, auf eine gemeinsame Zukunft zu hoffen. Die Freundschaft und Liebe zu ihr war ihm bislang zu kostbar, um sie mit einer leichtfertigen und möglicherweise plump wirkenden Anmache aufs Spiel zu setzen. Trotz seines guten Aussehens war Al, der eigentlich Albert hieß, alles andere als ein Gigolo. In Gesellschaft wirkte er zunächst interessiert, war redselig und offen, wurde aber rasch zurückhaltend und in der Gegenwart gleichaltriger Mädchen oder junger Frauen geradezu schüchtern. An Jule schätzte er die Nähe einerseits, aber auch die förmliche, intellektuelle Distanz, die in zahlreichen Gesprächen mit ihr über Gott und die Welt auf Außenstehende geradezu platonisch wirken mussten. Er konnte diesen Treffen jedoch eine Romantik abgewinnen, die ihn an seine kindliche Adventszeit erinnerte, in der man Weihnachten sehnlichst herbeiwünschte, aber auch den Moment fürchtete, an dem alles vorbei sein würde. Bis auf den für gute Freunde üblichen Begrüßungskuss auf beide Wangen gab es zwischen Al und Jule keine weiteren Körperkontakte, von der Ausnahmesituation bei ihrem ersten Treffen in Rom mal abgesehen. Allerdings hätte er sich dies bei verschiedenen Gelegenheiten durchaus vorstellen können.
Er war der Romantiker, während Jule aufgrund ihrer Erscheinung eher rational und burschikos wirkte. Dies wurde durch ihren Pagenschnitt noch betont. Der an eine frisch aufgesprungene Kastanie erinnernde, rötliche Braunton ihrer Haare kontrastierte perfekt mit ihrem zarten, blassen Teint. Ihre hellblauen, neugierigen Augen versteckte sie gelegentlich, vor allem bei offiziellen Anlässen, hinter einer runden Nickelbrille. Doch wenn es darum ging, ihre Meinung zu vertreten, schienen Jules Augen Funken zu sprühen. Auf Al wirkte das besonders anziehend; er kannte niemanden, dem er lieber in die Augen schaute. Von Mal zu Mal wurde ihm klarer, dass er sie nie mehr missen wollte, und irgendwann würde er ihr seine Liebe gestehen. Doch noch hatte er Angst, damit etwas zu zerstören.
Jule setzte sich gegenüber auf den kleinen Holzstuhl, rutschte dann aber an seine linke Seite. Wortlos und mit gespannter Körperhaltung blickte sie umher, als fühle sie sich verfolgt und sei jederzeit bereit, fluchtartig den Raum zu verlassen.
„Ich bin froh, dass du meine Nachricht bekommen hast, Al“, sagte sie leise. Ihre Stimme klang weich und zart und stand im Gegensatz zu ihrer tatkräftigen Erscheinung.
Al verlor sich in ihren Augen und suchte nach den richtigen Worten. „Jule, ich … ich mach mir Sorgen. Das mit der Nachricht … das wäre beinah schiefgegangen. Die Hausdame war schon damit beschäftigt, dein Hotelzimmer zu säubern.“
Der Kompressor des Kühlschranks sprang wieder an und Jule griff erschrocken nach seiner Hand.
„Jule, was ist los? Was passiert hier? Ich …“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich will dir helfen.“
„Ich weiß nicht, wie ich dir das erzählen soll, Al. Ich fürchte, ich ziehe dich mit jedem Wort tiefer in den ganzen Schlamassel.“ Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und schob behutsam ihre leicht zitternde Hand auf seinen Unterarm. Von dieser plötzlichen Zärtlichkeit überrascht, legte Al seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie sanft an sich, als wolle er sie beschützen vor dem, was ohne Zweifel unheilvoll in der Luft lag. Beide schwiegen. Sie genossen den Moment der Ruhe und die bis dahin ungewohnte Zärtlichkeit. Für Al hätte die Welt so stehen bleiben können. Doch im nächsten Moment löste Jule sich aus der Umarmung und blickte ihn sorgenvoll an. Als Tränen aus ihren Augen rollten, wollte sie sich abwenden. Al kam ihr aber zuvor, legte seine Hand auf ihre feuchte Wange und küsste sie sanft auf die Lippen. Für einen Moment verschwanden für beide die grell-kühle Umgebung, das Rattern des Kühlschranks und jede unheilvolle Vorahnung in einem bislang verborgenen Verlangen nach Wärme und Zärtlichkeit. Er versuchte krampfhaft, die grausame Möglichkeit, dass mit dieser Umarmung, mit diesem zärtlichen Kuss alles vorbei sein könnte, zu verdrängen. „Wir dürfen uns nie mehr trennen“, flüsterte er unbeholfen. Im Reden war er noch nie gut gewesen. Er bemerkte jedoch erleichtert Jules verlegenes Lächeln, das ihm so lieb geworden war, und nun war sie es, die Al sanft auf die Lippen küsste, als wolle auch sie diesen Moment für immer festhalten.
Ein kühler Windstoß erfüllte den Raum, als ein mit dunklem Trenchcoat gekleideter Mann in der Tür stand. Jule schaute Al eindringlich an und flüsterte: „Wir werden uns bald wiedersehen, ich liebe dich.“ Sie erhob sich erst langsam, rannte dann aber blitzartig zu der nur angelehnten Hintertür, verschwand im dahinter gelegenen Zimmer und zog krachend die Tür hinter sich zu. Diesen Fluchtweg hatte sie sich offenbar schon vorher ausgesucht. Das laute Klacken des Türriegels war zu vernehmen und hinderte die heranstürmende dunkle Gestalt, die von zwei weiteren, ebenso düster wirkenden Männern begleitet wurde, ihr zu folgen. Ohne auch nur zu ahnen, was die Männer im Schilde führten, sprang Al auf und stellte sich ihnen in die Quere, Jule war auf der Flucht vor ihnen, das war klar, und er musste unter allen Umständen versuchen, ihr Zeit zu verschaffen. Der erste der Männer zögerte nicht lange, zog eine Pistole aus der Innentasche seines schwarzen Mantels und zielte auf Als Kopf. Die Pistolenmündung starrte ihn bedrohlich an. Doch dann drehte sich der Mann ruckartig zur Hintertür des kleinen Restaurants, zielte kurz und schoss. Die doppelt gesicherte Tür öffnete sich erst, nachdem die anderen beiden Männer wiederholt dagegen getreten hatten. Der erste der Männer, offenbar der Anführer, drehte sich wieder zu Al um und rief mit tiefer, rauer Stimme: „Halt dich da raus!“ Al lief es kalt den Rücken runter. Diesen kurzen Satz würde er nicht vergessen, insbesondere nicht den Akzent. Der Mann hatte zwar Deutsch gesprochen, seine Muttersprache aber war eindeutig russisch oder polnisch. Vor dem Lokal ertönte ein quietschendes Motorengeräusch und Al wusste, dass Jule mit ihrer Vespa durch den Regen davon raste. Kurz danach quietschten erneut Reifen und mit Schreck wurde ihm klar, dass Jule mit dem angedeuteten Schlamassel weit untertrieben hatte. Er eilte auf die Straße, doch die Vespa und das Fahrzeug der Verfolger waren bereits verschwunden.