Nadjeschda legte die Zeitung beiseite. Sie saß auf einer hölzernen Bank eines kleinen idyllischen Parks mitten in Sachsenhausen, einem südlichen Stadtteil von Frankfurt. Die Ruhe, die sie umgab, konnte für einen Moment darüber hinwegtäuschen, dass um sie herum, nur wenige Meter entfernt, das brutale Räderwerk einer hektischen Großstadt unablässig und laut vor sich hin ratterte. Gedankenversunken blickte sie zu dem kleinen Spielplatz hinüber, auf dem eine Gruppe von etwa sieben- bis neunjährigen Kindern ausgelassen ihren spielerischen Fantasien nachging. Darunter auch Daniel, Nadjeschdas Sohn, der sich im Sonnenlicht übermütig im Kreis drehte.
Fast zehn Jahre waren seit den schrecklichen Ereignissen in der russischen Botschaft vergangen. Immer wieder wollte sie seither ihrem Leben ein Ende setzen. Sie wusste damals schon, dass sie die Erinnerungen an die Schmerzen, an die menschenverachtende Erniedrigung, nie mehr loslassen würden. Noch immer spürte sie den vernichtenden Schmerz in ihrem Unterleib, fühlte den massigen, animalisch stöhnenden Körper über ihr, der sie zentnerschwer erdrückte, ihr die Luft zum Atmen nahm. Es war eine Last, die sie noch heute zu ersticken drohte. Noch immer roch sie den widerlichen Gestank von Schweiß und faulem Mundgeruch, gepaart mit einem durchdringenden Geruch süßlichen Parfüms, den besonders Männer aus dem Orient verströmen und meinen, sich damit bei ihren willenlosen Frauen attraktiv zu machen, deren resignierte Gleichgültigkeit und Missachtung brechen zu können. Noch immer glaubte Nadjeschda, die ekelhaft klebrige Masse aus Speichel und Sperma auf ihrem Körper zu spüren und sehnte sich danach, sich wie eine Schlange zu häuten, ihrer für immer beschmutzten Hülle entfliehen zu können.
Wie aus dem Nichts kamen diese Erinnerungen hochgeschossen, ohne Anlass, unerwartet, wie ein Tsunami, der sie erbarmungslos überrollte. Jedes Mal spürte sie die Panik, wusste, dass sie machtlos dagegen sein würde, wusste, dass die Angst davor stärker war als jede Vernunft, als jeder Versuch, dagegen anzugehen. Dann riss sie sich oft von Panik getrieben die Kleider vom Leib, sprang unter die Dusche und drehte die Temperatur von glühend heiß zu kalt und wieder zurück, bis sie endlich erschöpft zusammensank. Damals traute sie sich lange Zeit nicht aus dem Haus, aus Angst, die Panik könnte sie auf der Straße überrollen, könnte sie für jeden sichtbar zu einer geistig verwirrten Unperson stempeln, der aufgrund von Drogen oder Alkohol sowieso nicht mehr zu helfen war. Ihre innere Zerrissenheit würde niemand begreifen und sollte auch niemand erfahren. Wiederholt hatte Karin sie nahezu bewusstlos aus der Dusche geschleift. Karin war die einzige, die sie berühren durfte, die Einzige, nach deren Zärtlichkeit sie sich sehnte, die Einzige, bei der sie in den Momenten der Verzweiflung Ruhe und Geborgenheit fand.
Und dann die schrecklichen Schuldgefühle, das zerstörerische Verlangen, wie besessen nicht nur ihrem eigenen Leben, sondern auch dem ihres ungeborenen Kindes ein Ende setzen zu wollen. Es war eine Todessehnsucht, die tief in ihr, wie das ungeborene Kind selbst, schlummerte und unweigerlich heranwuchs. Es war ein schrecklicher und doch auch irgendwie tröstlicher Gedanke, der immer wieder von ihr Besitz ergriff, dem unweigerlich bevorstehenden Antlitz des Bösen in Form eines Kindes, dem Fortpflanzungsprodukt desjenigen, der sie zum Schatten ihrer selbst gemacht hatte, doch noch entkommen zu können. Der Gedanke an ein ungewolltes Kind, das Produkt einer Vergewaltigung, würde für immer der lebende Beweis dieser schrecklichen Ereignisse bleiben, würde Zeugnis abgeben von jemandem, den sie abgrundtief hasste, der ihr Leben zerstört hatte. Nein, das konnte sie damals nicht ertragen und vor allem wollte sie es ihrem ungeborenen Kind nicht antun. Es war ihr Kind und doch schien es gebrandmarkt von einem widerwärtigen Erbgut. Sie liebte ihr Kind und war sich gerade deshalb sicher, ihm die niemals zu tilgende Gewissheit einer Inkarnation zwischen einer liebenden Mutter und dem Bösen schlechthin zu sein, nicht in die Wiege legen zu wollen. Es schien damals folgerichtig und konsequent, gerade deshalb zusammen mit ihrem Kind die Welt zu verlassen, für sie selbst, um Erlösung zu finden, und ihrem Kind zuliebe, da es noch unschuldig und rein war, unbelastet von den Umständen, wie und warum es zur Welt gekommen wäre. Möge es in einer anderen, einer besseren Welt das Licht erblicken.