Leseprobe „Brian C. Ixby“

Leseprobe:

„Baxter.“
„Stanley, gut dass ich Sie erreiche, wie geht’s?“
Stanley musste nicht lange überlegen, wer dran war. Kaum redet man vom Teufel, wollte er sagen, verkniff sich jedoch den Kommentar. „Ewey, nicht wahr?“
„Oh, Sie können sich an meine Stimme erinnern?“
Wie könnte er Eweys krächzende Stimme vergessen. Sie klang schlimmer denn je. Er wollte auf seine Frage nicht eingehen, um Eweys Eitelkeit nicht noch zu bestärken.
„Ich habe lange nichts von Ihnen gehört, sofern man von den allgegenwärtigen EE-Emblemen absieht. Ewey Enterprises an jeder Ecke, gratuliere. Starwey, Carwey, was machen Sie noch so alles?“ Stanley dachte an seine Vermutung, dass er hinter dem Gasangriff an der Grenze zu China stecken könnte.
„Nun, da gibt es so einiges. Wir sollten darüber sprechen.“
„Ich dachte, nachdem ich maßgeblich an der Befreiung von Alan beteiligt war, würden sie nicht mehr mit mir sprechen wollen.“
„Schwamm drüber. Immerhin hat sich Alan selbst ins Jenseits befördert. Dummer Junge.“
„Und dann haben sie AIDA zerstört. So war es doch, oder nicht?“
„Was blieb mir anderes übrig? Die blöde Kiste hat sich selbständig gemacht. Das passiert mir nicht nochmal. Experimente gehen manchmal schief. Bis die erste Rakete mit Menschen darin sich auf den Weg zum Mars gemacht hat, sind fünf Vorläufer kurz nach dem Start explodiert. Man lernt aus Fehlern, das ist alles“, sagte er abgeklärt, als wären die Milliarden, die bei den Raketenstarts wortwörtlich in die Luft geblasen wurden, eine Kleinigkeit.
„Das scheint mir reichlich untertrieben. Fehler können auch zur Katastrophe führen. Was AIDA betraf, wäre es fast zu einem Atomkrieg gekommen“, entgegnete Stanley.
„Nun ja, immerhin hat sich das Problem Nordkorea von allein gelöst.“
„Also stimmt es, dass Sie und AIDA die Finger im Spiel hatten.“
Ewey lachte und klatschte dabei in die Hände. „Ist doch besser gelaufen als alle sinnlosen Verhandlungen davor. AIDA musste nur die Nordkoreanischen Atomsilos öffnen und den Countdown initiieren. Die Amerikaner konnten nicht umhin, als dem koreanischen Erstschlag zuvorzukommen. Zum Glück waren die amerikanischen Atomraketen noch nicht gezündet, als sich die gesamte Führung Nordkoreas aus dem Staub gemacht hat. Dieser Little Rocket Man war doch jedem ein Dorn im Auge. Niemand hat ihm nachgetrauert, als er in China um Asyl gebeten hat und seither ein ziemlich karges Leben führt. Ein paar Pfunde weniger tun ihm ohnehin ganz gut. Und die Grenzen zu Südkorea sind, ohne einen Schuss abzufeuern, kollabiert.
2
Ist doch nett, wie ein kleines Missverständnis die Probleme der Menschheit lösen kann. Das gab es in ähnlicher Form meines Wissens nur einmal zuvor.“
„Sie meinen 1989, den Fall der Grenze zwischen West- und Ostdeutschland. War wohl auch nur ein kleines Missverständnis. Woher die Nachricht kam, die Grenzen seien offen, ist bis heute unklar. Und genauso fällt heute das Thema Nordkorea in das Metier von Verschwörungstheoretikern. Jetzt sagen Sie mir nicht, dass Sie bereits 1989 die Finger im Spiel hatten.“
„Ich bin gerührt von dem, was Sie mir alles zutrauen. Nein, 1989 war ich nur Zuschauer wie Sie. Aber wie Sie sehen, passiert Entscheidendes nur durch Missverständnisse. Allerdings seien Sie sich gewiss, dass der amerikanische Geheimdienst sehr wohl weiß, was damals passierte.“
„So wie es aussieht, kann das Schicksal auch mal eine gute Wendung nehmen“, erwiderte Stanley gedankenversunken, suchte nach Worte, um das, was er eigentlich sagen wollte, nicht länger hinauszuschieben. „Werden Sie nicht polizeilich gesucht?“, platzte es aus ihm hervor.
„Sie meinen wegen meiner Frau? Ich habe sie nicht umgebracht, falls Sie das meinen, auch wenn sie es verdient hätte. Hat mich pausenlos betrogen, die blöde Schlampe. Also, wie sieht‘s aus? Ich habe nicht viel Zeit.“
Helen war offenbar anderer Meinung, dachte Stanley, wollte sich jedoch auf keine Diskussion einlassen, insbesondere nicht sie ins Spiel bringen.
„Sie sind in London?“, fragte Stanley zurück.
„Wie Sie sehen, sind auch die Geheimdienste der Meinung, dass ich unschuldig bin. Nicht nur die britische Politik hat ein Interesse an mir. Es nützt niemandem, wenn ich im Knast sitze. Also, wir treffen uns im Steam Engine, ist doch Ihr Lieblingspub, nicht wahr? Also dann, in zehn Minuten“, ließ Ewey keinen Zweifel aufkommen. Stanley wollte noch etwas sagen, aber Ewey hatte aufgelegt.
Nachdenklich blickte er auf sein Handy. Ein Rückruf war nicht möglich. Unbekannte Nummer, das gab es nur selten. Anrufer mussten sich seit ein paar Jahren, nachdem ChatGPT das Telefonnetz mit fragwürdigen Anrufen geflutet hatte, zu erkennen geben.
„Du solltest da nicht hingehen, Stanley“, sagte Helen, die das Telefonat verfolgt hatte. „Ewey ist ein böser Mensch. Und schon gar nicht solltest du ins Steam Engine gehen. Wenn die wissen, dass ich hier bin, dann werden sie dir das Leben schwer machen.“
„Sie wissen es nicht. Hier bist du erstmal sicher. Und was Ewey anbelangt … ich muss mich mit ihm treffen. Andernfalls werde ich nie herausfinden, was er im Schilde führt.“
„Vielleicht ist es eine Falle. Ich komme mit.“
„Bist du verrückt? Du bleibst hier und rührst dich nicht von der Stelle.“
3
Sein Blick fiel auf die Fernbedienung. Helen nickte. Er erhob sich, griff nach seiner Jacke und verließ, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, sein Apartment. Auf der Straße blickte Stanley sich nochmals um. Er fühlte sich verfolgt. Vielleicht war es doch eine Falle, wie Helen vermutete und Ewey suchte nur nach einer Gelegenheit, sich zu rächen. Vergiften war ein bewährtes Mittel, eine verhasste Person um die Ecke zu bringen. Diesem Stojanovic konnte er am wenigsten trauen. Er nahm sich vor, im Steam Engine nichts zu essen oder zu trinken.
Bevor er seine ehemalige Stammkneipe betrat, atmete er ein paar Mal tief durch. Schon früher hatte er damit seine aufkommende Nervosität einigermaßen unter Kontrolle halten können. Als er die Tür öffnete, schaute er sich erneut um. Stojanovic war zum Glück nirgends zu sehen. Es waren nur wenige Gäste im Lokal. Die meisten saßen mit dem Rücken zu ihm oder waren in Gespräche mit ihrem Gegenüber vertieft. Niemand kam ihm bekannt vor, außer Ewey, der ausgerechnet dort saß, wo er sich vor einigen Jahren mit Sarah ausgesprochen hatte. Damals war es das erste Mal gewesen, dass er jemanden hinter seine Fassade hatte blicken lassen. Diesmal würde er sein Inneres für sich behalten, nichts von dem preisgeben, was ihn in den vergangenen Tagen beschäftigt hatte.
Als er näher auf ihn zukam, erschrak er. Eweys Gesicht und seine Hand, die er ihm entgegenstreckte, kamen ihm noch abgemagerter vor als in den Jahren davor. Am liebsten hätte er ihn gefragt, was mit ihm los war. Schon früher ging das Gerücht um, dass Ewey an einer unheilbaren Stoffwechselerkrankung litt. Jetzt war es nicht mehr zu verbergen. Er setzte sich ihm gegenüber.
„Wie geht es Ihnen, Stanley?“, brach Ewey das kurze Schweigen. „Ich habe von Ihren selbstlosen Aktionen in diversen Kriegsgebieten gehört. Nun ja, ganz so selbstlos war es am Ende doch nicht. Der englische König hat Sie in den Adelsstand erhoben, Respekt. Muss ich Sie jetzt mit Sir Stanley anreden?“,
„Es bedeutet mir nichts“, erwiderte Stanley rasch, was nicht gelogen war. Trotzdem ärgerte er sich über Eweys herablassendes Gerede. „Bleiben wir lieber bei Stanley. Aber ansonst geht es mir sehr gut“, log Stanley zurück. Er räusperte sich zu laut, was seine eigentliche Gefühlslage verriet.
„Möchten Sie etwas trinken oder essen?“, der Barkeeper stand vor ihnen und schaute ihn vielsagend an. Offenbar hatte er den Ärger zwischen Stanley und seinem Chef mitbekommen.
„Ach übrigens, der Chef kommt so gegen Mittag, also in knapp zwei Stunden“, schob der Barkeeper nach. Es klang wie eine Warnung.
„Was interessiert mich Ihr Chef“, raunzte ihn Ewey an.
„Ich dachte nur … also, was darf ich Ihnen bringen?“
4
„Ein großes Glas frisch gepressten Orangensaft, wenn Sie so etwas haben.“ Ewey schaute den Kellner provozierend an.
„Sehr gern und für den Herrn?“ Er drehte sich zu Stanley.
„Für mich auch bitte“, entgegnete dieser kurz. Der Barkeeper verschwand eilig hinter der Theke.
„Kein Guinness, wie früher?“ Ewey schaute Stanley provozierend an.
„Nicht um diese Uhrzeit. Und woher wissen Sie das mit dem Guinness? Ich kann mich nicht erinnern, mit Ihnen je ein Bier getrunken zu haben.“
„AIDA wusste alles. Haben sie das vergessen?“, erwiderte Ewey triumphierend.
„AIDA, hm, sie trauern ihr offenbar nach.“
„Niemand ist unersetzlich. Erst recht nicht so eine Kiste.“ Ewey zuckte zusammen, als habe er zu viel verraten.
Es gibt also eine neue AIDA, schoss es Stanley durch den Kopf. Er wollte sich seine Schlussfolgerung nicht anmerken lassen.
„Also, Ewey, was wollen Sie von mir?“
„Es gab einige Missverständnisse zwischen Ihnen und mir. Aber, wie Sie wissen, bin ich nicht nachtragend.“
Ob Ewey nachtragend war? Stanley hatte seine Zweifel. Er versuchte, es zu glauben. Was anderes blieb ihm im Moment nicht übrig. Aber was wollte Ewey wirklich von ihm? Vermutlich ging es Ewey um etwas, für das er sein Können mehr als sein Wissen benötigte. Das Wissen war längst auf die allgegenwärtige KI übergegangen.
„Geht es um ein neurochirurgisches Problem?“, erkundigte sich Stanley.
„Sehr schlau.“ Ewey griff in die Tasche, holte einen metallischen Gegenstand hervor und legte ihn zwischen sich und Stanley auf den Tisch. Es sah im ersten Moment aus wie eine Patrone.
Stanley erschrak. Waffen gehörten zu den Dingen, die er mehr als alles andere verabscheute. Zu viele Schussverletzungen hatte er gesehen, zu viele junge Menschen, die verstümmelt wurden oder deren Leben ein schreckliches Ende genommen hatte.
„Sind Sie unter die Waffenhändler gegangen?“, wollte Stanley wissen. Es klang zynisch, da die ganze Welt wusste, dass Ewey Enterprises tief in Waffengeschäfte verwickelt war.
„Das ist mehr als eine Waffe im herkömmlichen Sinne. Sehen Sie die winzigen Löchlein? Wenn das Ding aktiviert wird, dringen hauchdünne Fäden daraus hervor, die nur darauf warten, sich mit menschlichen Nervenzellen zu verbinden.“
5
„Ich nehme an, dass es eine neue AIDA gibt, die ebenfalls darauf wartet, mit ihrem Opfer in Verbindung zu treten.“
„Opfer, nicht doch.“ Ewey verzog sein ohnehin schon grotesk aussehendes Gesicht. „Das klingt so negativ. Dieses Ding erlaubt Menschen, die sich nicht ganz gesetzeskonform verhalten haben, ein neues Leben zu beginnen.“
Stanley zog misstrauisch die Stirn in Falten. „Sie meinen die perfekte Kontrolle.“
Er wollte auf Alan Ixby zu sprechen kommen, verkniff sich jedoch, seinen Namen zu erwähnen. Wusste Ewey, dass Alan noch lebte? Seit Sarahs Ankunft in Nepal, wo sie seither mit Alan und Dylan lebte, waren vier Jahre vergangen, in denen er erst nichts von ihr gehört hatte. Als sie sich dann doch gemeldet hatte, war es eine verschlüsselte Mail gewesen, aus der er schließen konnte, dass Alan noch lebte. Ahnte sie, dass Ewey sie überwachte? Dass sie Alan vor ihm schützen musste, war ohnehin klar.
„Ohne Kontrolle ist die Menschheit verloren“, erwiderte Ewey trocken. „Es gibt ein Land, das dies frühzeitig erkannt und perfektioniert hat. Aber Sie brauchen meine Hilfe.“
„Lassen Sie mich raten, Ewey, Sie haben sich nach China zurückgezogen.“
„Zurückgezogen ist das falsche Wort. Die Chinesen hatten ein großes Interesse an Ewey Enterprises. Seitdem ist alles, was unter EE zum Mars fliegt oder selbständig auf den Straßen rollt nicht mehr britisch, sondern chinesisch.“
Volltreffer, dachte Stanley wenig überrascht. Wie konnte es auch anders sein, als dass der Teufel mit der Hölle gemeinsame Sache machte.
„Das ist nichts Neues. Die Chinesen haben schon immer alles aufgekauft oder kopiert. Aber es geht Ihnen nicht nur um Raumflüge, selbstfahrende Autos oder die perfekte Kontrolle, nicht wahr? Dieses Ding …“, Stanley deutet auf das Stück Metall, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag, „es kann mehr als nur kontrollieren. Habe ich recht?“
„Sehr schlau. Kontrolle bedeutet, den kriminellen Taten immer nur hinterherzulaufen, sie erst dann zu ahnden, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Hiermit werden die richtigen Impulse gesetzt: Kriminalität von vorne herein nicht aufkommen zu lassen. Mehr noch…“ Er nahm das Metallteil in die Hand und drehte es zwischen seinen knochigen Fingern. „China benötigt mehr denn je loyale Polizisten und Soldaten. Aber auch Wissenschaftler und Ärzte, die alles wissen, was je publiziert wurde. An der richtigen Stelle im Gehirn platziert, sorgt dieses Interface dafür, dass dem fürsorgenden Staat nichts mehr verborgen bleibt. Als Gegenleistung wird der Empfänger mit allem nur erdenklichen Wissen versorgt, das für eine zukünftige Stellung im Staat hilfreich ist.“
6
Stanley wurde übel. Was er nur von schlecht gemachten Science-Fiction Filmen kannte, schien nun Realität zu werden. Man plante mit diesen Dingern offenbar nichts Geringeres, als ein ganzes Volk von Staatsfeinden zu Marionetten einer Diktatur zu machen, einer Diktatur unter kommunistischen Vorzeichen, wie es China war und immer bleiben würde. Wieder dachte er an Alan, der wenigsten die Chance gehabt hatte, gegen das anzukämpfen, was AIDA ihm eintrichterte, obwohl ihn das Hin und Her zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz am Ende zerstörte. Nun sollte es kein Hin und Her mehr geben. Alles würde gelenkt werden, nichts mehr dem Individuum überlassen bleiben.
„Menschenversuche, ich dachte, wir hätten das mit der NS-Zeit hinter uns gelassen“, sagte Stanley angewidert von Eweys Plänen. Oder waren sie längst Realität?
„Jetzt tun Sie nicht so scheinheilig, Stanley. Als Neurochirurg machen Sie doch auch nichts anderes. Sie bauen Elektroden ins Hirn, damit Querschnittsgelähmte wieder zappeln können. Wir sind einfach einen Schritt weiter. Sie waren es doch, der die Grundlagen dafür geschaffen hat. Dieser Alan Ixby funktionierte schon ganz passabel. Wenn nicht diese blöde AIDA dazwischengefunkt hätte, wären wir schon längst da, wo wir hinwollten.“ Ewey lachte. Dabei zeigten sich einige seiner zerstörten Zähne. Stanley hatte sich immer gefragt, warum er sich nicht die Zähne hatte sanieren lassen. Am Geld konnte es ja kaum liegen.
„Bei uns geht es um kranke Menschen, denen wir helfen wollen. Sie machen aus gesunden Menschen kranke, Marionetten eines staatlich gelenkten Supercomputers. Was Sie machen, Ewey, hat mit dem Commonwealth nichts zu tun?“
„Oh doch, mein Lieber. Es geht schon lange nicht mehr um gesund oder krank. Es geht um Kriminalität und Terrorismus. Um Anarchie. Bisher wurden Staatsfeinde bekämpft, eingesperrt oder hingerichtet. Im Grunde ist das eine Verschwendung von Ressourcen. Wir machen den Saulus zum Paulus.“
„Sie wollen wieder mal den lieben Gott spielen.“
„Ach ja? Sehen Sie sich doch um. Der liebe Gott war offenbar mehr damit beschäftigt, aus Paulus einen Saulus zu machen. Despoten haben seit einigen Jahren wieder Hochkonjunktur und es gibt genügend Idioten, die ihnen hinterherlaufen. Mit diesem Ding …“ er hielt seine Wunderwaffe, wie er das Metallteil nannte, Stanley vor die Nase. „gibt es eine Chance für Frieden und Sicherheit. Was soll daran schlecht sein? Und eines kann ich Ihnen sagen, Stanley. Der Chinese auf der Straße steht hinter seinem großen Führer. Der Wohlstand in China hat sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Die Kriminalität ist aus den Straßen verschwunden. Die Luft in Peking ist wieder sauber. Hiermit wird es kein Zurück mehr geben.“
7
Ewey hatte recht, musste sich Stanley eingestehen. Die nüchternen Fakten, wenn man den Medien noch Glauben schenken durfte, sprachen für sich. In Stanley regte sich trotzdem Widerwillen.
„Es geht im Leben nicht nur um Frieden und Sicherheit. Freiheit ist das, wonach wir uns alle sehnen. Mit diesem Ding wird der letzte Rest individueller Freiheit dem Gemeinwohl geopfert. Na wunderbar.“
Ewey schien auch darauf eine Antwort zu haben: „Was nutzt uns die individuelle Freiheit in einer überbevölkerten Welt? Das sind längst vergangene Träume. Hier in Europa und in Amerika verstecken sich die Reichen hinter Stacheldraht und lassen die Armen verrecken. Nennen Sie das etwa individuelle Freiheit? Was zwangsläufig folgt, ist Anarchie, jeder gegen jeden. Wir müssen das Gemeinwohl im Auge behalten, nur darum geht es.“
„Respekt, Ewey Enterprises, die Speerspitze des Kommunismus. Jetzt weiß ich auch, warum Sie mit den Chinesen kungeln. Karl Marx wäre stolz auf Sie und Mao Tse-Tung würden Ihnen den Orden der Günstigen Wolke verleihen.“
„Wie war das mit Ihrem Ritterschlag, Sir Stanley? Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen schmeißen. Aber was Marx anbelangt, sollte man ihn nicht verteufeln. Im Gegenteil, er war seiner Zeit weit voraus.“
„Wahnsinn. Ewey der Oberkapitalist, der mich zum Kommunismus bekehren will. Wer hätte das gedacht? Und welche Rolle haben Sie für mich vorgesehen? Staatssicherheit oder KGB?“
„Ihr Orangensaft. Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“ Der Kellner stand plötzlich hinter ihnen.
„Nein, nein, schon gut.“ Ewey schien sichtlich verärgert über Stanleys sarkastische Schlussfolgerungen.
„Also gut, Stanley, Sie haben recht. Individualismus ist nicht mehr gefragt. Aber seien Sie gewiss, dass es keine Alternative gibt zu einem allumfassenden Gemeinwohl. Die Welt ist überbevölkert, eine globale Umweltkatastrophe konnte gerade aufgrund Chinas Intervention noch abgewendet werden. Was Sie Freiheit nennen, mündetet über kurz oder lang in kompletter Anarchie. Also …Ich brauche Sie, die Welt braucht Sie. Dieses Ding, wie Sie es nennen …“, erneut drehte er das Stück Metall zwischen seinen Fingern „ist ein Wunderwerk der Technik. Es muss natürlich an der richtigen Stelle im Hirn platziert werden. Es bedarf auch des richtigen chirurgischen Zugangs, um nicht unnötig viel Hirnsubstanz zu opfern.“
8
„Und dafür brauchen Sie meine Hilfe? Darf ich fragen, wie oft Sie es bereits versucht haben, wie viele der armen Schweine ihr Leben dafür geopfert haben?“
„Das spielt jetzt keine Rolle. In China werden täglich Hunderte hingerichtet. Es war meine Idee, Ihnen eine neue Chance zu geben.“
„Ihre Idee …der selbstlose Ewey …Wie war doch gleich Ihr Nachname? Gibt es schon ein Denkmal oder wenigstens eine Bronzeplatte mit Ihrem Konterfei?“
„Lassen wir das, es geht um einige tausend Häftlinge, die noch in diesem Jahr hingerichtet werden sollen.“
„Also ist doch nicht alles Gold, was im Reich der Mitte glänzt! Und falls ich die Ehrenwerte Aufgabe des Doktors der Nation übernehmen soll, ich kann nicht an tausend Tischen gleichzeitig stehen. Sofern ich überhaupt eine Chance sehe, das Ding ohne Probleme an die richtige Stelle im Gehirn zu platzieren.“
„Das müssen Sie auch nicht. Wir haben eine Art Roboter, der das macht. Der muss allerdings entsprechend programmiert werden. Das funktioniert noch nicht so gut.“
„Und Sie meinen, ich könnte diesen Roboter entsprechend meiner bescheidenen menschlichen Intelligenz dazu anleiten.“
„Das ist der Grund, warum ich hier bin.“
„Und wenn es nicht klappt, hänge ich dann als Nächster am Galgen?“
„Wie gesagt, es gibt viele, die in der Todeszelle sitzen und glücklich wären, eine neue Chance zu bekommen. Dasselbe gilt für Abertausende, die in den Internierungslagern auf ihr seliges Ende warten, diese Uiguren und andere. Sie wissen schon.“
„Uiguren, interessant. Es geht also nicht nur um Kriminelle, sondern auch um Andersdenkende.“ Stanley schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Er wusste, dass der Zug bereits abgefahren war. Die chinesische Industrie produzierte das Ding in Eweys Hand bereits am Fließband. „Also gut. Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.“
Offenbar hatte Ewey mit dieser Antwort nicht gerechnet.
„Ich wusste, dass ich auf Sie zählen kann, Stanley“, grinsend ließ er das Metallteil in der Brusttasche seiner Jacke verschwinden. „Und nochmals, alles was zwischen uns stand, gehört der Vergangenheit an. Sie und ich, wir werden Geschichte schreiben, das verspreche ich Ihnen.“
Er sprang auf, griff erneut in die Brusttasche seines Jacketts und holte eine Visitenkarte hervor.
„Die Nummer darauf ist streng vertraulich. Sie ist mit einer Stimmerkennung gekoppelt und reagiert nur auf Ihre Stimme. Sollte jemand anderes anrufen, ist die Leitung
9
augenblicklich tot. Also, rufen Sie mich an, sobald ich mit Ihnen rechnen kann. Sie bekommen einen privaten Flieger. Und Stanley …lassen Sie sich nicht allzu viel Zeit. Jeden Tag werden dort Menschen hingerichtet, denen Sie hätten helfen können. Es ist auch Ihre Verantwortung als Mensch und Arzt, die auf dem Spiel steht. Vergessen Sie das nicht.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Ewey um und verschwand durch die Tür. Stanley blieb noch einen Moment sitzen und drehte die Visitenkarte in den Händen.
„Professor Baxter. Ich kenne Sie noch von früher“, der Kellner stand erneut hinter ihm und blickte sich um. „Es tut mir leid wegen vergangener Nacht. Ich habe nicht viel Zeit. Der Chef muss jeden Moment kommen. Er war stinksauer und will sich das Geschäft mit Helen nicht kaputtmachen lassen. Zuhälterei ist nicht legal, bringt ihm jedoch erheblich mehr ein als nur Bier zu verkaufen. Insbesondere wenn die Kleine außer etwas Strom keine weiteren Ansprüche hat. “
„Das kann ich mir vorstellen. Dreckige Geschäfte sind immer lukrativer.“ Er dachte an das Gespräch mit Ewey. Dann blickte er auf. Erst jetzt erkannte er ihn wieder. Es war derselbe Kellner, wie in früheren Zeiten, als das Steam Engine gewissermaßen seine zweite Heimat war.
„Vielen Dank“, Stanley seufzte, „Ja, wie die Zeiten sich ändern. Und was Helen anbelangt, sie hat nicht nur Ansprüche, sie hat auch Rechte. Sagen Sie Stojanovic, dass er sich den Strom sparen kann.“
Er stand auf und eilte auf die Straße. Menschenleere Autos glitten an ihm vorbei. Es war nur das leise Summen der Elektromotoren zu vernehmen. Früher konnte man sich, wenn man die Straße überquerte, zumindest auf sein Gehör verlassen. Heute konnte man sich auf nichts mehr verlassen.