Leseprobe:
März 2023
Helmut Schneider lehnte sich zurück und betrachtete nachdenklich die junge Frau, die ihm gegenübersaß. Er hatte sie gebeten, am Nachmittag bei ihm vorbeizuschauen. Jetzt saßen sie sich auf zwei abgewetzten Ledersesseln in seinem kleinen Dienstzimmer, das ihm die Technische Universität Darmstadt als Leiter der Abteilung KI-basierte Kommunikation zur Verfügung gestellt hatte, gegenüber und schwiegen sich an. In der Ecke tickte eine Standuhr, ein Erbstück seines Ur-Großvaters. London, 1925, stand auf dem Zifferblatt. Das war genau hundert Jahre her und dennoch ging sie noch einigermaßen genau.
„Wie ist dein Name?“, fragte er, obwohl er es bereits wusste.
„Helen“, antwortete sie mit sanfter Stimme. Ihre strahlend blauen Augen schauten ihn erwartungsvoll an. Die pechschwarzen, seidig glänzenden Haare fielen ihr locker über die Schulter. Ihre zierliche Nase, der sinnliche Mund verliehen ihr eine Attraktivität, der sich Schneider schon länger nicht mehr entziehen konnte.
„Helen, ein schöner Name.“ Er überlegte einen Moment, wich dabei ihren Blicken aus. „Kannst du mir etwas von dir erzählen?“
„Was möchtest du hören?“, antwortete sie. Ihr selbstbewusstes Auftreten, das vertraute Du, machte ihn ein wenig verlegen. Das lag auch daran, dass es ihm gegenüber attraktiven Frauen an Selbstbewusstsein fehlte. Er dachte zurück an sein Leben außerhalb des Instituts, von dem es eigentlich nicht viel zu berichten gab, zumindest was Frauen anbelangte. Bereits als Jugendlicher war er übergewichtig, unsportlich und versuchte seinen körperlichen Makel mit schulischen Leistungen wettzumachen, was ihm jedoch einmal mehr die Rolle des Außenseiters einbrachte. Unter Gleichaltrigen war er der Kleinste, was dazu geführt hatte, dass gerade die Mädchen auf ihn herabgeschaut, ihn stets belächelt hatten. Das änderte sich auch nicht mit dem Studium und seiner raschen Beförderung zum Leiter der Abteilung an der TU Darmstadt, einem sympathischen Städtchen knapp dreißig Kilometer südlich der Finanzmetropole Frankfurt am Main. Sein vierzigster Geburtstag lag wenige Wochen zurück und bereits jetzt hatte er kaum noch Haare auf dem Kopf. Nie hatte er eine Freundin gehabt. Sein Liebesleben spielte sich nur in seiner Fantasie oder im virtuellen Raum ab. Jetzt ertappte er sich bei dem Gedanken, sich eine reale Beziehung mit Helen, auch wenn sie knapp zwanzig Jahre jünger wirkte, durchaus vorstellen zu können.
„Erzähl mir etwas von dir“, wollte er ihre Gedanken verstehen.
„Ich sehe alles, ich höre alles, ich bin perfekt“, sagte sie und lächelte dabei, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Es klingt etwas überheblich und dennoch hat sie recht, dachte Schneider. Sie war perfekt, zumindest was ihr Äußeres betraf. Wenn sie redete, bewegte sich ihr Mund gleichmäßig zu den Worten, die ihr über die Lippen kamen, es passte perfekt zu ihrer sonstigen Mimik. Ihre Atemgeräusche waren täuschend echt, harmonierten mit dem gleichmäßigen Heben und Senken ihres Brustkorbes. Dabei musste sie gar nicht atmen. Sie tat nur so, damit es so aussah, als würde sie atmen. Es bestand kein Zweifel, die Abteilung Robotik hatte ganze Arbeit geleistet.