Leseprobe „Leben ohne Freiheit“

Inland, Mai 2030

„Guten Morgen, Al.“
„Guten Morgen.“
„Du bist spät dran.“
„Tatsächlich?“
„Du hast nicht gut geschlafen.“
„Doch, doch. Naja … so einigermaßen.“
„Du solltest morgen Abend eine Schlaftablette nehmen.“
„Wenn du meinst.“
„Jule hat nächste Woche Geburtstag.“
„Stimmt. Danke, dass du mich daran erinnerst.“
„Kein Problem. Soll ich Blumen besorgen, wie immer, für jedes Jahr eine Rose, das wären dann …“
„Dreiundvierzig Rosen, ich weiß. Nein, keine Rosen – oder … oder vielleicht doch.“
„Ein Geschenk für sie hast du auch noch nicht?“
„Soll das eine Frage sein oder ein Hinweis darauf, was für ein schlechter Ehemann ich bin?“
„Nur eine Frage.“
„Also gut. Ich gebe zu, noch kein Geschenk zu haben. Hast du vielleicht eine Idee?“
„Ich habe keine Idee, aber einige Vorschläge.“
„Einige Vorschläge? Klingt ja sehr kreativ. Und, welche Vorschläge hast du?“
„Jule hat ein neues Hobby.“
„Sie hat ein neues Hobby? Was du nicht sagst. Was für ein neues Hobby hat sie denn?“
„Sie liest sehr viel.“
„Mein Gott, sie liest schon immer sehr viel. Soll ich ihr vielleicht ein Buch schenken, so aus Pappe und Papier, so richtig altmodisch?“
„Das, was sie liest, gibt es nicht gedruckt. Du kannst es auf ihren E-Reader herunterladen.“
„Wie persönlich: zum Geburtstag etwas herunterladen. Hast du keine bessere Idee? Oh, entschuldige! Nicht Idee, ich meinte natürlich einen Vorschlag.“
„Jule findet es interessant. Angesichts dessen, was du so liest, Al, könnte es dich auch interessieren.“
„Sieh an, du weißt wieder mal mehr über mich als ich selbst. Und, welcher geheimnisvolle Lesestoff gehört neuerdings zu ihren Hobbys?“
„Brennstoffzellen. Sie liest Artikel über Brennstoffzellen.“
„Brennstoffzellen? So, sie liest also Artikel über Brennstoffzellen. Und deshalb, meinst du, ist dies ein passendes Geschenk zum Geburtstag. Ein Buch – oh, Verzeihung, ein wie auch immer herunterzuladender Artikel über Brennstoffzellen. Sie wird mir vermutlich um den Hals fallen, mich abküssen und mir voller Entzücken zuflöten: Al, das ist ja so lieb von dir, so aufmerksam, das habe ich mir schon immer gewünscht.“
„Es entspricht nur ihrem derzeitigen Interesse. Ihre Reaktion darauf könnte natürlich anders ausfallen. Du solltest dich mehr um sie kümmern.“
„Danke für den Tipp. Und woher nimmst du die Erkenntnis, dass ich mich nicht genügend um meine Frau kümmere?“
„Ihr unterhaltet euch deutlich weniger als früher, täglich fünfunddreißig Minuten. Im letzten Monat waren es täglich zweiundvierzig Minuten. Ihr habt auch weniger Sex: Letztes Jahr um diese Zeit fünf Mal im Monat, insgesamt hundertzweiundachtzig Minuten. Dieses Jahr waren es nur hundertneunundzwanzig Minuten, davon …“

Klick.

„Verdammt, das reicht“, murmelte Al vor sich hin und schaltete den Lautsprecher seines Transporters ab. Früher nannte man sie Autos oder PKWs oder gab ihnen liebevolle Namen. Man war stolz auf sie, sie waren Statussymbole. Heute sahen sie alle gleich aus, bewegten sich auf Zuruf und wussten alles besser.